Es war das wohl größte soziale Experiment im Nachkriegseuropa und wurde vom Rest der Welt jahrzehntelang nicht wahrgenommen. Bis heute ist das rumänische Experiment 770 eine Randnotiz der Geschichte geblieben. Neue Dokumente, unveröffentlichte Archivaufnahmen und ergreifende Interviews ermöglichen es, die Geschichte einer ganzen Generation nachzuerzählen. Eine Generation, die nur geboren wurde, weil ein Diktator es so befahl.

1966 hatte der rumänische Staatschef Nicolae Ceausescu eine Vision vom „neuen“, selbstbewussten, kommunistischen Menschen. Nach Vorbild und Wunsch des Diktators sollte eine ganze Generation ohne Erinnerungen an Rumäniens vorkommunistische Vergangenheit entstehen. Eine Generation, die seine Pläne von einem unabhängigen, selbstbestimmten Rumänien verwirklichen sollte. Die Geburtsstunde dieser Generation wurde das Dekret 770 aus dem Jahre 1966. Dieses verbot Abtreibungen und stellte sie unter harte Bestrafung. Frauen sollten nach Ceausescus Plan mindestens vier Kinder haben. So sollte die Bevölkerung Rumäniens innerhalb der nächsten 24 Jahre um zehn Millionen Menschen wachsen.

Ein illegales Abtreibungsnetzwerk

An nichts sollte es dem neuen Menschen mangeln. Und dennoch weigerten sich rumänische Frauen Ceausescus Gebärmaschinen zu werden. Ein illegales Abtreibungsnetzwerk entstand. Selbst die offiziellen Statistiken sprechen von mehr als 11.000 Frauen, die ihr Leben verloren. Durch verpfuschte, von Amateuren durchgeführte Abtreibungsversuche. Ärzte, die illegale Schwangerschaftsabbrüche vornahmen, wurden zu langen Haftstrafen verurteilt. Frauen, die wegen Komplikationen ins Krankenhaus kamen, wurden noch auf dem OP-Tisch brutal verhört, um die Namen der Komplizen zu erfahren. Manchmal wurde ihnen sogar ärztlicher Beistand verweigert und sie starben qualvoll.

Die Rache der „Kinder des Dekrets“

Zwei Millionen Rumänen kamen in Folge des Dekrets auf die Welt. Menschen, die es sonst nicht gegeben hätte. In Rumänien nennt man sie „Decretei“, Kinder des Dekrets. Doch Ceausescus Rechnung ging nicht auf. 23 Jahre später weigerten sich „seine Kinder“ den Plan ihres symbolischen Vaters auszuführen. Die meisten Toten der rumänischen Revolution im Dezember 1989 waren nach 1966, dem Jahr des Dekrets 770, geboren. Fast alle Soldaten aus dem Exekutionskommando, das das Ehepaar Ceausescu an Weihnachten 1989 erschoss, waren „Kinder des Dekrets“.